Die Hete Uschi Müller

Uschi Müller hatte einen Traum. Sie wollte an den Gay Games teilnehmen. Eigentlich wollte sie an der „richtigen Olympiade“ teilnehmen, aber als heterosexuelle Schwimmerin gab es keine Chance, unter die besten deutschen Wassersportler zu gelangen. Die Konkurrenz war einfach zu groß. Seit ihrer frühen Kindheit schwamm sie bei Wettkämpfen in ganz Deutschland mit. Zerfressen von Ehrgeiz versuchte sie, innerhalb des deutschen Schwimmverbandes die Karriereleiter regelrecht hoch zu kraulen, aber leider fehlten ihr immer ein paar Millisekunden, um den Anschluss an die Elite des Landes zu finden. Vor einem Jahr hatte sie deshalb eine Depression entwickelt und eine Gesprächstherapie begonnen. Der Therapeut verfolgte vordergründig den Ansatz, ihr die Besessenheit nehmen zu wollen und sie von dem Glauben abzubringen, dass sie nur dann wertvoll sei und etwas wirklich Sinnvolles geleistet habe, wenn sie an der Olympiade teilnehmen würde. Er unterbreitete ihr den pragmatischen Vorschlag, es bei den Gay Games zu versuchen. Immerhin ein wichtiger Wettkampf von internationaler Tragweite.
„Ich bin aber nicht lesbisch“, antwortete Uschi Müller nur apathisch auf dieses Angebot.
„Das ist doch völlig nebensächlich“, meinte der Therapeut. Insgeheim machten ihn seine depressiven Patienten aggressiv und er hatte seine eigene Strategie im Umgang mit den von Melancholie Geplagten entwickelt, die in keiner Weltgesundheitsorganisation niedergeschrieben stand. Am liebsten hätte er seine Klienten alle in einen dunkelblauen Jogginganzug aus Polyester gesteckt und täglich zwei Stunden um die Tartanbahn eines Fußballstadions gejagt, weil er die Ansicht vertrat, dass ein erschöpfter Körper dem Geist weniger Zeit zum Grübeln einräumte.
Es war aber nicht ihr Therapeut, der Uschi Müller letztendlich dazu trieb, eine Teilnahme an den Gay Games tatsächlich in Erwägung zu ziehen, sondern die Transe Trisha Trash, die Besitzerin des Epilierstudios am Dom, das sie in regelmäßigen Abständen aufzusuchen pflegte, um ihre Bikini-Zone zu trimmen. Trisha hatte ihr voller Begeisterung von dem Event im Sommer erzählt. Sie kannte viele Sportlerinnen und insbesondere Wassersportlerinnen, die ebenfalls zu ihr in Behandlung kamen. Als Uschi ihr – zunächst wieder recht desinteressiert mitteilte, dass sie ungefähr so homosexuell war wie Rainer Calmund schlank, hatte Trisha bereits eine gehörige Phantasie entwickelt. Sie vertrat die Auffassung, dass dies überhaupt keine Rolle spielte und dass Uschi das „Lesbischsein“ doch von ihr und aus Büchern lernen konnte.
„Schätzchen“, hatte sie gesagt, „niemand wird das merken – und außerdem ist das doch auch vollkommen schnuppe, wer mit wem ins Bett geht. Ich meine, ich kenne einige Lesben, die hatten schon so lange keinen Sex mehr, die dürften sich eigentlich gar nicht als lesbisch bezeichnen.“
„Ja, als was denn dann?“, fragte Uschi neugierig, denn darüber hatte sie noch nie nachgedacht.
„Die sind halt asexuell“, erläuterte Transe Trisha geschwätzig ihre Sicht der Welt und Uschi Müller begann ernsthaft darüber nachzudenken, ob sie diese, sich ihr bietende Chance ergreifen sollte. Was hatte sie zu verlieren? Einmal auf dem Siegerpodest stehen und eine Medaille küssen. Darum ging es doch! Und ob sie nun jemand für lesbisch hielt oder nicht, das war ihr relativ egal. Da sie in Köln lebte, machte das sowieso keinen großen Unterschied.
Trisha versprach ihr, den Kontakt zu der Trainerin des schwul lesbischen Verbandes herzustellen, die ebenfalls zu ihrem Kundenstamm zählte, und begann ohne Umschweife mit dem „Grundkurs Lesbisch für Anfängerinnen“, indem sie Uschi erklärte, wie Lesben sich im Allgemeinen und im Speziellen verhalten. Aber Trisha war, wie sich erst viel später herausstellte, wohl nicht die beste Ausbilderin für diese Berufung. Denn optisch hielt sie Uschi mit ihren langen, brünetten Haaren und den vorne spitz zulaufenden Fingernägeln für nahezu perfekt. Ja, Trisha beneidete Uschi um ihre natürliche Lockenpracht und ihren unverfälschten weiblichen Charme. Ihren antiquierten Ansichten zufolge schien es lediglich notwendig, der Schwimmerin ein paar Verhaltensmuster beizubringen, die in den Augen der Transsexuellen typisch waren für die Vertreterinnen der Tribadie.
„Schätzchen“, lehrte sie ihrer gefügigen Schülerin, „alles, was du tun musst, ist ab und zu auf den Boden rotzen, egal wo du stehst. Und dabei fasst du dir in den Schritt, so als hättest du dicke Eier in der Hose.“
„Häh?“ Uschi war perplex. „So einfach ist das?“
„Ja, was hast du denn geglaubt? Die pinkeln auch nur Wasser.“
„Aber meine Frisur“, versuchte Uschi noch einzuwerfen, denn ihre eigene stereotype Vorstellung von lesbischen Frauen tendierte zu frechen Kurzhaarschnitten.
„Quatsch“, korrigierte Trisha sie. „Die Haare bleiben wie sie sind. Die sind schön. Und ich liebe auch deine Fingernägel.“ Dann begann sie, Uschi die Kopfhaut zu massieren, während sie das Lied aus einer berühmten deutschen Casting-Show anstimmte: „Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön…“
Als Uschi an diesem Tag das Epilierstudio verließ, hielt sie noch eine Liste mit Buchtiteln in ihrer Hand, die Trisha extra für sie angefertigt hatte. Die folgende Zeit sollte sie mit der Lektüre wie „The Joy of Lesbian Sex“ oder „So treiben es die Nonnen“ verbringen. Beim Lesen rümpfte sie oft die Nase, erschien ihr dies doch sehr 70-er Jahre lastig, aber was Trisha sagte, musste richtig sein, denn wer hätte sich besser mit dem Thema auskennen können als sie, die vorher ein heterosexueller Mann gewesen war, jetzt als Frau lebte und weiterhin Beziehungen zu Frauen unterhielt?
So kam es, dass Uschi Müller im Herbst 2009 dem schwul lesbischen Schwimmverband beitrat, ihre Depressionen sich verflüchtigten, der Therapeut eine Klientin weniger hatte und die heterosexuelle Schwimmerin mit ihrem Ziel vor Augen, die Medaille zu küssen in regelmäßigen Abständen an den Beckenrand rotzte und sich in den Schritt fasste. Das gefiel der Trainerin zwar nicht sonderlich, aber Uschis Leistungen stimmten und wenn sie so weiter machte, hatte sie eine nicht zu unterschätzende Chance auf einen Platz auf dem Siegerpodest.
Einzig ihre härteste Konkurrentin, Petra Trautmann, machte ihr das Leben zur Hölle. Deren Verhalten grenzte schon fast an Mobbing, doch Uschi hielt an ihrer einmal gewählten Marschroute fest und würde nun keinesfalls mehr aufgeben. So kurz vor dem Ziel – nein, undenkbar.


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Veröffentlicht im Regenbogenkrimi-Verlag, Köln
Copyright© Regenbogenkrimi-Verlag, 2010

ISBN 978-3-00-031692-0

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